Unter der Überschrift Er wird, er wird nicht, er wird … berichtet die TAZ vom 24./25. Oktober 2015 über den Einsatz von Algorithmen in der Verbrechensbekämpfung. Auch hierzulande treten statistische Verfahren ihren Siegeszug an und verdrängen andere Ansätze des Umgangs mit Straftätern. Ein Kommentar von Götz Eisenberg.
Der amerikanische Soziologe Richard Berk arbeitet seit etlichen Jahren mit den ausgefeiltesten statistischen Programmen daran, immer genauere Vorhersagen zu treffen. Wird jemand seine Kinder schlagen, wird jemand morden? Berk sagt, dass er für ungeborene Babys jetzt schon mit ziemlicher Sicherheit prognostizieren könnte, ob aus ihnen einmal Verbrecher werden. Noch traue sich da keiner ran, das werde sich aber bald durchsetzen.
Berk gilt auf seinem Gebiet als einer der besten in den USA, vielleicht sogar in der Welt. Seinen neuesten Algorithmus hat er für eine Behörde in Pennsylvania entworfen, die darüber entscheidet, ob jemand auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wird. Das Programm soll Wahrscheinlichkeiten dafür liefern, ob ein Gefangener draußen wieder ein Verbrechen begehen wird und wenn ja, ob dieses eine Gewalttat sein wird.
[…] Parallel zu dieser Entwicklung machen Neurowissenschaftler sich anheischig, die Prognose von Straftätern aus deren Hirnströmen herauslesen zu können. Ein Pädophiler möchte vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Man zeigt ihm kinderpornografische Aufnahmen und scannt währenddessen sein Gehirn. Zeigen sich in bestimmten Hirnarealen Anzeichen von Erregung, bleibt er drin. Der amerikanische Hirnspezialist James Fallon hat jahrelang Verbrecher in den Computertomographen geschoben und die Besonderheit ihre Hirne betont. Er war, ganz ähnlich wie Richard Berk, davon überzeugt: Nicht der Mensch entscheidet, ob er zum Verbrecher wird, die Natur bestimmt es schon vor seiner Geburt. Dann entdeckte er eines Tages im Rahmen einer Versuchsreihe, an der er selbst teilgenommen hatte, dass eine Aufnahme seines eigenen Gehirns genau dieselben Auffälligkeiten aufwies. „Mir war sofort klar, dass meine Theorie falsch sein musste“, erinnert er sich. Warum war er kein Verbrecher geworden, obwohl er doch die Veranlagung dazu offensichtlich mitgebracht hatte. Er sagt heute: Eine liebevolle Umgebung lässt eine solche Veranlagung nicht zum bestimmenden Faktor in einem Lebenslauf werden. Besonders seiner Mutter habe er es zu verdanken, dass er nicht zum Gewalttäter und Verbrecher wurde. Heute gehört er zu den Wissenschaftlern, die davon ausgehen, dass das Zusammenspiel von Veranlagung und sozialer Umgebung dafür verantwortlich ist, wie sich ein Mensch entwickelt.
Diese aus eigener Betroffenheit resultierende Korrektur seiner Position hält Fallon allerdings nicht davon ab, seine Forschungsergebnisse in den Dienst des Militärs zu stellen. Er hat nun herausgefunden, dass nicht alle Soldaten nach traumatischen Erfahrungen bei Kriegseinsätzen bleibende Schädigungen davontragen. Manche erholen sich erstaunlich schnell. Er will diese resilienten Soldaten nun vorher herausfinden, damit das Militär sie gezielt für gefährliche Auslandseinsätze auswählen kann.
Der große Gerhard Mauz, jahrzehntelang Gerichtsreporter des Spiegel, hat vor vielen Jahren im Konflikt zwischen Anlage-Theoretikern und jenen, die bei der Frage nach den Ursachen von Kriminalität auf die sozialen Bedingungen verweisen, eine für mich bis heutige gültige Formulierung gefunden: „Doch angesichts der nicht endgültig zu erschließenden Rolle der Anlagen haben wir um den Einfluss der Umwelt auf die menschliche Entwicklung so zu ringen, als sei ohne jedes Gewicht, in welchem Umfang mit schwer, mit kaum und gar nicht entrinnbaren Anlagefaktoren gerechnet werden muss. Jeder und jede, die an die Justiz geraten, angeklagt oder auf das drängend, was sie oder er für ihr Recht halten – ist eine, ist einer von uns.“ … ► weiterlesen